Berlin, 11. September: Die Zivilgesellschaft kritisiert das sogenannte Sicherheitspaket der Bundesregierung, das am Donnerstag im Bundestag in der ersten Lesung besprochen wird. Das Gesetzespaket enthält eine Vielzahl an neuen Befugnissen für Ermittlungsbehörden, welche die Grundrechte von Millionen von Bürger:innen einschränken und insbesondere die Rechte von von Rassismus betroffenen Menschen, Asylbewerber:innen und Geflüchteten, aushöhlen.
Svea Windwehr, Co-Vorsitzende von D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt kommentiert: „Im Hauruckverfahren werden Grundrechte radikal eingeschränkt. Die als Fortschrittskoalition angetretene Regierung bricht ihren Koalitionsvertrag, öffnet der Massenüberwachung Tür und Tor und untergräbt die Grundrechte besonders schutzbedürftiger Gruppen. Der blinde Aktionismus der Bundesregierung zeigt sich daran, dass weder Expert:innen noch Verbände angehört wurden. Wer nach verlorenen Wahlen auf billigen Populismus setzt, spielt den Rechtsextremen in die Hände. Im parlamentarischen Verfahren muss die Zivilgesellschaft gehört und die Grundrechte aller Menschen verteidigt werden.“
Christian Mihr, stellvertretender Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sagt: „Aktuell muss es darum gehen, die Menschenrechte hochzuhalten und sich nicht mit rassistischen Zuschreibungen und kopflosen Gesetzesverschärfungen zu überbieten. Nachdem die Ampel-Koalition jahrelang über Gegenmaßnahmen zu Racial Profiling diskutiert hat, will sie jetzt im Rekordtempo anlasslose Kontrollen ausweiten. Diese Befugnisse sind ein Einfallstor für Racial Profiling und gehören stattdessen abgeschafft. All unsere Fotos oder Tonaufnahmen im Netz soll der Staat künftig mit Technologie für Stimm- und Gesichtserkennung durchsuchen dürfen, ob es nun Fotos vom Kindergeburtstag sind, unsere Urlaubs-Schnappschüsse oder ein selbst aufgenommenes Lied. Das verletzt die Privatsphäre der gesamten Bevölkerung. Auch das Recht auf Protest ist bedroht, wenn Menschen sich künftig fragen, ob Fotos von Demonstrationen mit Gesichtserkennung ausgewertet werden. Wir brauchen gerade jetzt eine aktive Zivilgesellschaft, die sich im wahrsten Sinne des Wortes traut, Gesicht zu zeigen – keine eingeschüchterte.“
Matthias Spielkamp, Geschäftsführer von AlgorithmWatch kritisiert: „Die Bundesregierung versucht nun im Schnellverfahren, die ersten Grundlagen für flächendeckende biometrische Überwachung in Deutschland zu schaffen und bricht damit den Koalitionsvertrag. Der Aktionismus der Ampel läuft hier in die völlig falsche Richtung. Wir stehen alle noch unter dem Schock der Morde von Solingen. Aber gerade weil die Situation sehr emotional ist, besteht die Gefahr, nun über das Ziel hinaus zu schießen. Dass KI-gestützte Datenanalysen und biometrische Erkennung von öffentlichen Bildern und Videos für mehr Sicherheit sorgen, ist ein falsches Versprechen. Keine einzige Straftat würde dadurch verhindert.“
Matthias Marx, Sprecher des Chaos Computer Club kommentiert: „Die Bundesregierung lässt sich von den Faschisten treiben und schwenkt in Rekordzeit von „Anonymität wahren“ zu „alle biometrisch überwachen“. Es gibt aber keine technischen Lösungen für soziale Probleme. Wenn dieser Gesetzesentwurf verabschiedet wird, dann genügt es nicht mehr, schöne Stellungnahmen zu schreiben und alle drei Jahre eine Demo gegen die Vorratsdatenspeicherung zu organisieren. Künftig müssten wir dazu anleiten, Überwachungsmaßnahmen zu sabotieren und abzuschalten.“
Lotte Burmeister von Digitale Freiheit: „Ohne Freiheit keine Demokratie. Das unverhältnismäßige Einschränken der Grundrechte bringt weder mehr Sicherheit, noch ist es mit unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung vereinbar. Das weiß auch die Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag biometrische Erkennung ablehnt. Wir fordern sie deshalb auf, sich an ihren Koalitionsvertrag zu halten und biometrische Massenüberwachung zu verbieten. Unsere Gesichter sind keine wandelnden QR-Codes!“
Teresa Widlok, Vorsitzende von LOAD e.V. kommentiert: „Auch wenn die Gesetzentwürfe nicht den kompletten Horrorkatalog aus der Wunschliste des Innenministeriums enthalten, sind sie absolut unhaltbar. Was in manchen Landesgesetzen schon vom Bundesverfassungsgericht einkassiert wurde, soll nun für die Bundesebene legalisiert werden. Es ist unerträglich, dass auf dem Rücken der Bürgerrechte einem KI-Hype hinterhergelaufen wird. Anstatt eine solide Ausstattung und Digitalisierung der Polizei voranzubringen, wie sie schon zahlreich vorgeschlagen und beschlossen, aber nie richtig umgesetzt wurde. Damit wäre der Sicherheit in Deutschland weit mehr gedient als mit rechtlich wackligen Instrumenten, die aktionistisch im Schweinsgalopp beschlossen werden sollen.“
Hintergrundinformationen:
Die Kampagne „Gesichtserkennung stoppen“ ist ein zivilgesellschaftliches Bündnis, das sich für das Verbot automatischer Gesichtserkennung und sonstiger biometrischer Fernerkennung in der Öffentlichkeit einsetzt. Das gilt sowohl für Systeme zur nachträglichen als auch zur Live-Erkennung.