Die Europäische Union ist ein Staatenverbund, der (mehr oder weniger) auf den gleichen Werten beruht. Dabei ist die EU nicht nur der weltweit größte Binnenmarkt, sondern vertritt die Interessen ihrer 500 Millionen Einwohner:innen weltweit. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union fasst als Grundlage alle persönlichen, bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Menschen in der EU zusammen.
Diese Grundrechte, die jede Bürgerin und jeder Bürger in Europa genießt, sind durch die von der EU-Kommission vorgeschlagene „Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ in Gefahr. Weil die Anbieter von Messenger-Diensten dazu verpflichtet werden sollen, die Chats und Fotos ihrer Nutzer:innen in Echtzeit nach Darstellungen von sexueller Gewalt gegen Kinder zu durchsuchen, nennen wir den Vorschlag „Chatkontrolle“. Am 28. September wollen die EU-Staaten im Rat über den Entwurf und damit über die Zukunft der privaten Kommunikation im Internet abstimmen. Gemeinsam mit dem Bündnis Chatkontrolle Stoppen! fordern wir die Bundesregierung auf, gegen den Vorschlag zu stimmen.
Wenn die Verordnung in Kraft tritt, bedeutet das unter anderem:
- Es besteht die Möglichkeit, jede private Nachricht anlasslos zu kontrollieren, ohne das Wissen der Nutzer:innen. Jede:r der über 500 Millionen Einwohner:innen wären unter Generalverdacht. Auch in bisher Ende-zu-Ende-verschlüsselten Diensten wie WhatsApp gäbe es schlichtweg keine private Kommunikation mehr.
- Wenn jede private Nachricht kontrolliert wird, haben die Menschen Angst, ihre Meinung zu äußern, wenn sie regierungskritisch ist. Dies führt zu einer Atmosphäre der Selbstzensur („chilling effects“).
- Bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel Whistleblower, wären zudem besonders gefährdet, da die sichere Weitergabe von Informationen an die Presse nicht mehr möglich wäre
Damit werden die Rechte auf Privatsphäre und Datenschutz sowie die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit eingeschränkt.
Die Folgen der Chatkontrolle?
Diese Möglichkeiten schaffen ein System, das, wenn es in die falschen Hände gerät, katastrophale Auswirkungen haben kann. Autokratische Staaten in und außerhalb Europas können es einsetzen, um die Bevölkerung zu kontrollieren und Kritik zu unterdrücken.
Diese Grundlage verschafft Regierungen die Möglichkeit für Maßnahmen, die sie gegen die eigene:n Bürger:innen einsetzen können. Hier sind einige potenzielle Szenarien:
- Missbrauch der Technologie: Die Möglichkeit, Daten vor der Verschlüsselung zu scannen, kann dazu führen, dass persönliche und sensible Daten von Regierungen und Unternehmen für eigene Zwecke missbraucht werden. Diese Daten könnten auch von (autoritären) Staaten für die Verfolgung von Oppositionellen und Bürgerrechtler:innen genutzt werden.
- Ausnutzung für Wirtschaftsinteressen: Wenn große Unternehmen Zugang zu Nachrichteninhalten haben, können sie von der Regierung unter Druck gesetzt werden, bestimmte Geschäftspraktiken zu verfolgen oder Inhalte zu zensieren. Das Gleiche gilt umgekehrt. Die beim Scanning gesammelten Daten könnten zudem die Grundlage für eine mögliche Kommerzialisierung sensibler Daten bilden.
- Vertrauensverlust in der Gesellschaft: Das Wissen um die Überwachung im Internet untergräbt das Vertrauen in Regierungen, Technologieunternehmen und digitale Kommunikationsmittel. Einige Bürger:innen werden versuchen, die Technologie zu meiden und/oder alternative Kommunikationsmittel zu suchen, um der Überwachung zu entgehen. Ein gesellschaftlicher Rückschritt ist möglich. Kriminelle werden jedoch immer einen Weg finden, Technologie für ihre Zwecke zu nutzen.
Diese Szenarien sind nicht alle zukünftigen Dystopien, sondern bereits möglich, wie die New York Times im Dezember 2022 berichtet. Durch eine ärztliche Konsultation für den Sohn über ein digitales Tool einer Klinik wurde der Vater zum Gegenstand polizeilicher Ermittlungen und seine Onlinekonten (hier Google) gesperrt. Und nach Feststellung eines Missverständnisses durch die Polizei sind die Onlinekonten trotzdem samt privater Inhalte vom Unternehmen gelöscht worden.
Die eigenen Grundrechte sind so wertvoll wie die eigene Gesundheit. Erst wenn diese fehlt, lernt eine Person, was verloren gegangen ist.
Sollte dieser Vorschlag der Kommission angenommen werden, ist es möglich, Anbieter von Kommunikationsdiensten (unter anderem) dazu zu verpflichten, nach bekanntem und unbekanntem Bildmaterial zu suchen. Diese generelle Überwachungspflicht wäre ein schwerwiegender Eingriff in unsere Privatsphäre und ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Darüber hinaus ist es für uns alle fatal, wenn wir durch den Zugriff auf unsere persönlichen Daten weitere Macht an Einzelpersonen, Unternehmen oder Teile der Regierung abgeben. Diese Macht kann nicht durch demokratische Institutionen kontrolliert werden und ist in einem System wie Europa nur schwer rückgängig zu machen.
Was du jetzt tun kannst, um die Chatkontrolle aufzuhalten, haben wir im Blog Warum dich die Chatkontrolle betrifft – und was du tun kannst aufgeschrieben.
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D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt ist Teil des Bündnisses Chatkontrolle Stoppen! Bis zur Abstimmung in Rat und Parlament legen wir einen besonderen Fokus auf das Thema und werden regelmäßig Beiträge veröffentlichen. Dabei sind wir auch für Gastbeiträge offen, schreibt uns!